Interview Dr. Nicolas Dierks

Dr. Nicolas Dierks

Vertrauen als Basis: So gestalten wir die digitale Zukunft

Die digitale Transformation stellt Unter­nehmen vor neue Herausforderungen: Der Umgang mit Kundendaten, die Automati­sierung von Arbeitsprozessen und der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz werfen nicht nur technische, sondern auch ethische Fragen auf. Wie können Unternehmen sicherstellen, dass sie neue Technologien verantwortungsvoll einsetzen und gleichzeitig das Vertrauen ihrer Kunden, Mitarbeiter und Partner gewinnen?

Unser Interview mit dem Philosophen und Ethik-Experten Dr. Nicolas Dierks beleuchtet die Bedeutung der digitalen Ethik im Mittelstand. Dr. Dierks vergleicht Vertrauen mit einem Versprechen und betont, dass klare Verantwortungsstrukturen die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sind. Er argumentiert, dass Vertrauen ein Schlüsselfaktor für erfolgreiche Innovation und Kooperation in der digitalen Welt ist.

Ethische Grundwerte, wie Transparenz, Ver­antwortungsbewusstsein und Fairness, bilden die Grundlage für dieses Vertrauen. Unternehmen, die diese Werte in ihrer Kultur verankern und aktiv leben, schaffen nicht nur ein positives Arbeitsklima, sondern stärken auch ihre Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit.

Dr. Nicolas Dierks

Dr. Nicolas Dierks

ist promovierter Philosoph, Keynote-Speaker und Host des Podcasts „smart aber fair“. Er schreibt philosophische Sachbücher, wie den SPIEGEL-Bestseller „Was tue ich hier eigentlich?“. Zuletzt publizierte er 2023 das wirtschafts-philosophische Buch „Ökonomie neu denken“ (2023). Er leitet das CAS-Zertifikatsstudium „Digitale Ethik“ an der Professional School der Leuphana Universität Lüneburg.

Mehr unter nicolas-dierks.de

Interview

Ingo Rütten: Lieber Nicolas Dierks, Sie befassen sich in Ihren Publikationen und als Dozent mit der „Digitalen Ethik“. Warum sollte sich die Wirtschaft eigentlich für solche philosophischen Fragen interessieren?

Nicolas Dierks: Weil auch die Wirtschaft auf Vertrauen angewiesen ist, um zu florieren – gerade auch in Krisen. Mitte der 2010er-Jahre verpassten einige Ereignisse den bis dahin rasant wachsenden Digitalkonzernen einen Dämpfer: die NSA-Enthüllungen von Edward Snowden 2013, der Cambridge-Analytica-Skandal 2018 sowie Datenskandale auch bei uns in Europa. Das führte zu einem massiven Misstrauen der Nutzerinnen und Nutzer. Auch Börsenkurse brachen ein. Viele Unternehmen mussten erkennen: Was wir mit digitaler Technologie tun, holt uns am Ende ein. Wer heute ein digitales Geschäftsmodell hat oder eine digitale Transformation vollziehen will, muss bei Mitarbeitenden, Partnern, Kunden oder auch der Öffentlichkeit als hinreichend vertrauenswürdig gelten.

Ein weiterer Aspekt ist die „Moralisierung der Märkte“ – Konsumenten entscheiden sich eher für Marken oder Un­-ternehmen, bei denen sie kein schlechtes Gewissen haben. Spätestens seit dem Krieg in der Ukraine sollte klar sein, dass Konsum auch ethisch und politisch ist. Dieser Trend ist auch durch das Internet und soziale Plattformen begünstigt worden: Die Konsumenten sind gebildeter, besser informiert und tauschen sich aus. Sie positionieren sich über Marken und Kaufentscheidungen und inszenieren sich manchmal sogar dabei (nicht nur Influencer tun das). Damit wird auch für Unternehmen Klarheit in ethischen Fragen wichtig. Das Resultat dieser parallelen Entwicklungen ist, dass es sich sogar die großen Tech-Unternehmen nicht leisten können, ethische Aspekte einfach zu ignorieren. Sie müssen klare Mindeststandards einhalten – notfalls durch Regulierungen. In der EU hat hier der Digital-Markets-Act immerhin einen Rahmen gesetzt, der Plattformen wie TikTok in die Pflicht nimmt.

Im Übrigen ist dies heute nicht nur für die Kunden wichtig, sondern ganz besonders auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Eine klare ethische Haltung ist gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein wichtiger Baustein des Employer- Brandings – auch für den deutschen Mittelstand.

Ökonomie neu denken

Christoph Quarch, Krisha Kops, Nicolas Dierks, Kirstine Fratz, Fritz Lietsch
Gebundene Ausgabe, 124 Seiten, 14,90 €

Eine klare ethische Haltung ist auch ein wichtiger Baustein des Employer-Brandings.

Viele Unternehmen sehen die ausufernde Regulierung als Belastung für das eigentliche Business: Lieferkettensorgfaltsgesetz, Nachhaltigkeitsberichterstattungspflicht und jetzt auch noch der AI-Act der EU. Wieso sollten Unternehmen neben den gesetzlichen Anforderungen noch darüber hinausgehende Überlegungen der Selbstbeschränkung anstellen?

Faire Grundprinzipien für die Zusammenarbeit sind die Basis für erfolgreiches Wirtschaften. Dies kann durch externe Regulierung erfolgen oder durch Selbstverpflichtungen von Organisationen oder gar Branchen. Man denke an die Rechtsanwaltskammern, die Ärztekammern oder den Pressekodex. Wo ethische Standards klar sind und überprüfbar eingehalten werden, da braucht es weniger staatliche Regulierung. Insofern sollten ethische Standards wirklich in der Organisationskultur verankert sein. Nicht als Leitlinien auf einem Poster in der Kaffeeküche, sondern als gelebte Praxis.

Stellen Sie sich vor, Kundinnen und Kunden, Mitarbeitende, Lieferanten oder Kooperationspartner bekommen den Eindruck, eine Organisation geht nicht anständig mit ihnen um. Mangelndes Vertrauen hemmt den Erfolg. Misstrauen verlangsamt Prozesse. Vertrauen hingegen macht Zusammenarbeit einfacher. Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann sagte: „Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität.“ In der Unternehmenspraxis heißt das: In vertrauensvoller Zusammenarbeit muss man nicht alles in komplexen Verträgen festschreiben, aufwendig kontrollieren und vom anderen das Schlimmste erwarten.

Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität.

Das heißt, aus Ihrer Sicht bremsen ethische Überlegungen nicht die Innovationsgeschwindigkeit der Unternehmen, sondern beschleunigen sie sogar?

Ja, davon bin ich überzeugt. Vor allem, wenn man seine ethische Strategie ernsthaft entwickelt und pragmatisch implementiert. Schon 2022 hat die Unternehmensberatung Deloitte in einer großen Studie festgestellt, dass ethisches Verhalten und Vertrauen wesentliche Faktoren für die Akzeptanz von Innovationen und digitaltechnischem Fortschritt sind. Demnach messen 80 % der befragten Digitalexperten dem Thema Corporate Digital Responsibility eine wichtige Rolle für den zukünftigen Unternehmenserfolg zu. Je mehr Daten die Unternehmen sammeln und verarbeiten, zunehmend mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz, umso dringender brauchen wir einen klaren Rahmen für den verantwortlichen Umgang mit dieser Technologie. Wir wollen Unternehmen und den Menschen dahinter vertrauen können, weil sie moralisch integer sind. Einzelne Fehlentscheidungen im Management sind menschlich und verzeihlich – wir lernen alle dazu. Aber eine unmoralische Haltung ist sehr schwer zu vergeben, denn sie stellt die Beziehung zwischen Menschen und Organisationen grundlegend in Frage. Wenn Vertrauen verletzt wird, entsteht Frustration. Reagiert wird meistens mit Forderungen nach mehr Kontrolle, und das verlangsamt alles, vor allem Innovation und Fortschritt.

Somit halte ich den vermeintlichen Gegensatz von Ethik und Verantwortung auf der einen Seite und Innovation und Geschäftserfolg auf der anderen Seite für einen Irrtum. Im Gegenteil: Vertrauen ist ein Innovationsbooster. Denn es senkt Vorbehalte gegenüber Veränderungen und neuen Technologien, ermöglicht produktivere Kooperation und macht Organisationen anpassungsfähiger, effizienter und schneller. Wenn wir in disruptiven Zeiten übertriebene Skepsis reduzieren und schnellere Adaption ermöglichen wollen, dann ist der Aufbau von Vertrauen durch eine ethische Geschäftsstrategie zentral.

Vertrauen ist ein Innovationsbooster.

Aber ist es nicht so, dass wir uns in Europa zu sehr um diese Themen kümmern, und am Ende machen die großen amerikanischen Unternehmen das Business, die sich allein am Shareholder-Value orientieren und die Gewinne einstreichen?

Natürlich müssen Wirtschaftsunternehmen auch Gewinne machen, um langfristig erfolgreich am Markt zu bestehen. Aber die alleinige Orientierung am Shareholder-Value, wie Milton Friedmann sie einst formulierte, ist nicht mehr zeitgemäß – wenn sie es denn je war. Denn Unternehmen sind nicht ausschließlich den Shareholdern verpflichtet, sondern allen Beteiligten – den Mitarbeitenden, Geschäftspartnern, der Gesellschaft etc. Alle Akteure einer Gesellschaft sind einander verpflichtet, entweder direkt oder zumindest was gemeinsame Grundregeln angeht, von denen ja auch Unternehmen profitieren. Ich kenne etliche Unternehmerinnen und Unternehmer, die das ähnlich sehen.

Die alleinige Orientierung am Shareholder-Value ist nicht mehr zeitgemäß. Unternehmen sind vielfältigen Stakeholdern gegenüber verpflichtet.

Deshalb ist es auch richtig und wichtig, dass wir in Europa bei manchen Dingen etwas genauer hinschauen. Gerade stark monopolisierte Märkte haben Effekte, die gesellschaftlich nicht akzeptabel sind. Europa ist für Big Tech nach wie vor ein wichtiger Markt – und wenn wir als EU durch Regulatorik, sei es durch die DSGVO oder die Risikoklassifizierung Künstlicher Intelligenz durch den AI-Act, die Spielregeln vorgeben, dann müssen sich die Anbieter anpassen. Insofern diese ein einheitliches Produkt weltweit anbieten wollen (wie eine Suchmaschine, eine soziale Plattform oder ein generatives KI-Modell), dann könnten sich diese hohen regulatorischen Standards als neue Spielregeln weltweit durchsetzen. Andere Staaten orientieren sich bei ihrer Digitalgesetzgebung bereits an der EU. Für die meisten Unternehmen, die keine Monopolisten sind, ist der AI-Act dann eher vorteilhaft: Er bietet einen klaren Rahmen, in dem man als vertrauenswürdig wahrgenommen wird, und erleichtert somit die Etablierung neuer Technologien.

Zudem macht der AI-Act es KI-Projekten extra leicht: Von der EU werden „Regulatory Sandboxes“ angeboten – das sind Reallabore, in denen KI-Technologien schon in frühen Innovationsphasen auf Chancen und Risiken getestet werden können. Das schafft Raum für Partizipation und stärkt die gesellschaftliche Akzeptanz von Innovationen. Auch daraus können sich Wettbewerbsvorteile ergeben.

Podcast: smartaberfair.de

In seinem Podcast „smart aber fair“ spricht Nicolas Dierks mit hochkarätigen Expertinnen und Experten über die Wege in eine gute digitale Zukunft.

Schon heute sind viele Menschen, Unternehmen und Organisationen von den massiven Anstrengungen der Veränderung überfordert: nachhaltige und digitale Transformation, veränderte Weltmärkte, geopolitische Unruhen, neue gesellschaftliche Erwartungen an Leben und Arbeit. Und jetzt sollen sich Unternehmen auch noch um ethische Fragen kümmern?

Gerade jetzt! Wenn enorme Veränderungen zu großer Unsicherheit führen, kommt es darauf an, eine gute Haltung zu entwickeln. Und das kann (und sollte) jede Organisation tun – viele tun es ja schon. Welches ist denn gerade unsere Haltung? Worin liegt unser Zusammenhalt? In jeder Organisation gibt es viele ungeschriebene Regeln, nach denen Menschen gut zusammenarbeiten. Wenn man mit diesem Schatz des Vertrauens gut arbeitet – und das tut die Ethik –, dann kann das der Organisation geradezu tragenden Wind unter die Flügel geben. Diese Aufgabe muss von der Geschäftsleitung klar gewollt sein, um es dann in der gelebten Praxis der gesamten Organisation umzusetzen.

Zu Beginn sollten Organisationen Raum und Ressourcen für einen Diskurs schaffen. Als erstes Schlaglicht dient dabei eine Fragestellung wie: „WER ist gegenüber WEM für WAS verantwortlich?“ Dabei macht man z. B. durch eine Arbeitsgruppe oder Ethik-Taskforce eine Bestandsaufnahme und Analyse aller Stakeholder: Welche Personengruppen intern und extern sind für unsere Organisation wichtig – und was ist für sie wichtig? Und welche gegenseitigen Verantwortlichkeiten ergeben sich daraus? Das eruiert man am besten im Dialog mit den Stakeholdern. Und überlegt man, wie man berechtigte Anforderungen im eigenen „Unternehmens-Ethos“ berücksichtigt. Das kann man auch im Purpose, in Leitlinien oder einem Mission-Statement konkretisieren. Wichtiger ist aber, es in den Unternehmensalltag und in konkrete Projekte zu integrieren.

Ein erstes Schlaglicht wirft die Frage auf: WER ist gegenüber WEM für WAS verantwortlich?

So kann man bei der Entwicklung einer neuen Dienstleistung oder einem internen Change-Prozess sehr pragmatisch klären, welche ethischen Themen berührt werden. Werden bestimmte Gruppen dabei ungerecht benachteiligt? Wer würde sich über das Angebot empören – und warum? Könnten wir unsere Entscheidungen den Betroffenen gegenüber offenlegen und erklären

Falls sich das zu theoretisch anhört, kann man es auf einfaches Bauchgefühl runterbrechen, z. B. mit der Frage: Würde ich das meiner Oma guten Gewissens erklären können? Die Schlüssel sind Transparenz und Erklärbarkeit gegenüber den relevanten Stakeholdern. In einem offenen Dialog klare Verantwortlichkeiten zu vereinbaren, das ermöglicht Vertrauensbeziehungen und stärkt die Glaubwürdigkeit des Unternehmens. Dann werden Leitlinien nicht top-down vorgegeben, sondern entwickeln sich als partizipativer Bestandteil des kooperativen wirtschaftlichen Handelns. Die in diesem Sinne ethische Perspektive sollte ein selbstverständlicher Bestandteil jedes Projektes werden. Das bildet die Basis für nachhaltigen Geschäftserfolg.

Oder wie der Gründer meines ehemaligen Arbeitgebers,
der Agentur „Leo Burnett“, in einer Rede von 1967 formulierte, die stets neuen Mitarbeitenden vorgespielt wurde: „When to take my name off the door.“ Er verkündete mit tiefster Überzeugung, es seien nicht Größe oder Gewinne des Unternehmens, die er mit seinem Namen verknüpft wissen wolle, sondern Anständigkeit und Integrität.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Casestudy: Strategie

Strategieprozess für einen Sozialverband mit 600.000 Mitgliedern, Landesverbänden und vielfältigen Gremien

DAL-Deutsche-Leasing-Sparkassen
Zielwerk, Unternehmensberatung, Strategie, Frankfurt, Mittelstand

Die Herausforderung:

Wie können wir die Zukunftsfähigkeit des Verbandes in einer sich verändernden Welt sicherstellen und dafür die Kraft aller Mitglieder und Gliederungen nutzen?

Unser Beitrag:

  • Konzeption und Begleitung des Strategieprozesses über 3 Jahre
  • Durchführung von Workshops auf Ebene von Präsidium, Geschäftsführung, Strategieausschuss, Landesverbänden
  • Begleitende qualitative Marktforschung durch Führungskräfte-Interviews sowie quantitative Marktforschung bei bestehenden und potenziellen Mitgliedern
  • Erarbeitung Strategieempfehlung inkl. Mission, Vision, Purpose
  • Ausarbeitung Masterplan inkl. Kommunikations- und weiterführenden Maßnahmen zur Organisationsentwicklung und Veränderung bis auf lokale/regionale Ebene